- Kalach, Dur-Scharrukin und Ninive: Die episch erzählende Reliefkunst
- Kalach, Dur-Scharrukin und Ninive: Die episch erzählende ReliefkunstBereits im 18. Jahrhundert hatten Reisende Berichte und Gegenstände aus Mesopotamien nach Europa mitgebracht, die Kunde von der altmesopotamischen Kultur gaben. Nichts verschaffte jedoch diesem Kulturkreis so viel Aufmerksamkeit wie die steinernen Reliefplatten, die seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bei den Grabungen in assyrischen Palästen zum Vorschein gekommen waren. Vom 9. Jahrhundert v. Chr. an hatten diese Reliefplatten die Wände der Paläste der assyrischen Herrscher geziert, über deren Personen und Taten sie berichten. Französische und später englische Konsuln und Forscher wetteiferten in der Aufdeckung solcher Reliefs, die in großer Zahl nach Europa verschifft wurden.Die Ausschmückung der Wände von Bauten aller Art war in Babylonien üblich und weit verbreitet. Wandmalereien gab es schon im jungsteinzeitlichen Çatal Hüyük, in Uruk begegneten wir den Mosaiken aus farbigen Tonstiften, textile Wandbehänge sind allerdings nur durch gemalte Nachahmungen wie die Investitur-Szene aus dem altbabylonischen Palast von Mari bekannt. Während die Anbringung von Wandbehängen beziehungsweise von Malereien auf verputzten Wänden aber sicher gleichermaßen für alle Regionen des Vorderen Orients galt, ist die Verstärkung von Mauern durch Steinplatten, die dann als Untergrund für Reliefdarstellungen dienen konnten, auf die Regionen beschränkt, die über natürliche Steinvorkommen verfügten. Daher fallen Babylonien und vermutlich auch der Kernbereich Assyriens als Herkunft dieser Technik aus. In der Tat finden wir diese Art der Wandverkleidung zuvor nur in Anatolien bei den Hethitern und ihren Nachfolgern, von denen sie die Assyrer übernommen haben dürften.Während die Platten aber in den Herkunftsgebieten die Aufgabe hatten, den Mauerfuß vor herabtropfendem Traufwasser zu schützen, also außen angebracht waren, dienten die Reliefplatten in Assyrien vor allem zur Ausschmückung der Innenräume; der bautechnisch-funktionale Aspekt stand also nicht mehr im Vordergrund. Dagegen wurde dieser eindrucks- und prunkvolle Wandschmuck in den gleichen Gesamtzusammenhang einbezogen, dem auch die Palastarchitektur diente: der Zurschaustellung der Macht des Herrschers oder des Reichs. Die Betonung der überragenden Stellung des Königs im Ritus und die bildliche Erzählung seiner Taten auf den Reliefs dienten der Selbstversicherung des Herrschers; sie waren gleichzeitig eine Botschaft an die Götter wie auch an die Menschen.Im Verlauf der rund zweihundertjährigen Geschichte des assyrischen Wandreliefs sind dabei interessante Verschiebungen zu beobachten. Die Verkleidung der Wände mit bis zu 2 m hohen reliefierten Steinplatten finden sich zum ersten Mal im Palast von Assurnasirpal II. in seiner neu eingerichteten Residenzstadt Kalach. Dieser Palast gliederte sich nach dem von diesem Zeitpunkt an fest eingeführten Schema in einen öffentlichen und einen eher privaten Komplex mit dem Thronsaal und dem dahinter liegenden Bankettsaal als Nahtstelle. Während aber Reliefs mit magisch-rituellen Themen sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich zu finden waren, beschränkten sich die von den Taten des Königs erzählenden Reliefs aber ausschließlich auf den öffentlichen Teil. Denn die Darstellungen aus dem magisch-rituellen Bereich setzten erhebliche Vorkenntnisse voraus, um die Botschaften entschlüsseln zu können. Diese Konventionen waren aber sicherlich nur denjenigen geläufig, die sich im Inneren des Palastes bewegten - und natürlich gleichermaßen den Göttern. Da die erzählenden Darstellungen solche Kenntnisse nicht voraussetzten, richteten sie sich auch an Leute, die den innersten Kreisen nicht angehörten - wahrscheinlich in erster Linie Personen, die zu Audienzen in den Thronsaal kamen und von den gewichtigen und prunkvollen Darstellungen des Königs beeindruckt werden sollten.Die Ausschmückung des Thronsaals von Assurnasirpal II. war eine großartige Gesamtkomposition aus beiden Darstellungsformen. Die Wände gegenüber dem Hauptzugang und hinter dem Thronpodest zeigten die Hauptszenen der Verherrlichung des Königs, die übrigen Wände bedeckten Bilder aus dem magisch-rituellen wie auch aus dem narrativen Bereich. Da von den direkten Nachfolgern nur vereinzelt Reliefs bekannt sind, ist die weitere Entwicklung zunächst unklar. Erst im Palast von Sargon II. in Dur-Scharrukin steht uns wieder eine Gesamtanlage zur Verfügung; hier sind zwar die wichtigen Teile des Thronsaals in gleicher Weise wie im Palast Assurnasirpals II. ausgestaltet, daneben nimmt jedoch die Zahl der erzählenden Darstellungen, also der Bilder, die ihre Botschaft von der überragenden Macht des Herrschers auch ohne Vorkenntnisse bildnerischer Konventionen übermitteln konnten, unübersehbar zu. Es liegt nahe, dies mit der erheblichen Ausdehnung des Reichs - und damit der Zunahme der Personengruppen, die den innerassyrischen magisch-rituellen Vorstellungen fernstanden - zu erklären.Der Trend zu diesen leicht verständlichen Darstellungen setzte sich in der Reliefausstattung des »Palastes ohnegleichen« fort, den sich Sanherib in seiner neuen Residenzstadt Ninive erbaute. Während magisch-rituelle Darstellungen dort völlig in den Hintergrund traten, wurden die erzählenden Szenen nun außerordentlich ausführlich geschildert. Um auf der gleichen Fläche mehr darstellen zu können, verkleinerte man den Abbildungsmaßstab. Die so bisweilen entstehende Unübersichtlichkeit wurde dadurch ausgeglichen, dass wichtigen Episoden eine erklärende Beischrift hinzugefügt wurde. Obwohl der neue Palast Assurbanipals in Ninive, der Nordpalast, nur fragmentarisch erhalten ist und man aus seinen Resten eine Gesamtkonzeption nicht mehr ablesen kann, hat es zumindest in den bekannten Teilen den Anschein, als seien magisch-rituelle Inhalte bewusst vermieden worden. Zu den großartigsten Schöpfungen gehören hier die über lange Wandsequenzen ausgedehnten Jagdszenen, unter denen die Löwenjagden am eindrücklichsten sind. Auch wenn man bisweilen den Eindruck von Genreszenen haben könnte, stehen diese Darstellungen jedoch gleichfalls fest im Gesamtrahmen, der Verherrlichung des Königs.Im Zusammenhang mit der Ausstattung der Paläste dürfen die monumentalen Torhüterfiguren nicht unerwähnt bleiben. Diese als »Lamassu« aus den schriftlichen Quellen bekannten Schutzdämonen bestanden aus einem geflügelten Stier mit menschlichem Kopf. Sie flankierten, jeweils nach außen gewandt, die wichtigen Eingänge und hatten die Aufgabe, von außen eindringendes Übel abzuwehren. Ähnliche Figuren sind in Babylonien, aber auch in anderen Regionen des Vorderen Orients, seit mindestens dem ausgehenden 3. Jahrtausend bekannt - etwa die Torlöwen von Schaduppum.Prof. Dr. Hans J. Nissen
Universal-Lexikon. 2012.